Der Ritter des Löwen

Im tiefen Mittelalter hatte der König von Friesland eine Tochter, die war so schön und liebenswürdig, so keusch und sanftmütig, daß der Himmel ihr ein Einhorn als ständigen Begleiter in die Gärten des Palastes schickte. Aus diesem Grunde war sie bald nur noch als die Weiße Lady, Schutzbefohlene des Einhorns bekannt.

Als die Zeit gekommen war, heiratete sie eine tapferen Ritter von guter Abstammung und großen Besitztum und als sie in sein Schloß zog folgte ihr das Einhorn, um weiterhin ihr treuer Begleiter zu sein. Schon bald war die Weiße Lady in ihrer neuen Heimat genauso geliebt wie in ihrer alten und, wie es damals Brauch war, suchten sie viele junge Ritter auf, um ihr erster Ritter zu werden und ihr Wappen im Kampf zu tragen. Sie waren Söhne von Königen, Herzögen und Grafen, aber aus all diesen nahm der niedrigste ihr Herz gefangen. Sie wählte Bartholomew als ihren ersten Ritter und gab ihm ihr Halstuch, damit er es als Glücksbringer bei sich tragen konnte.

Mit freudigem Herzen ritt Bartholomew in die Welt hinaus und obwohl er zuvor schon ein wagemutiger Ritter gewesen war, fühlte er sich nun unbesiegbar. Überall wo er hinkam überwand er die bösten Mächte und aus jedem Turnier ging er als Sieger hervor. Mit jedem Triumph erklärte Bartholomew laut in welchem Namen er handelte und so breitete sich der Ruhm der Weißen Lady rasch überall aus.

Während seiner Reisen wachte Bartholomew eines Nachts vor Schreck auf und fand sich dem Angriff eines Löwen ausgesetzt, dessen Höhle er unwissentlich als Schlafplatz gewählt hatte. Er verteidigte sich und ein grimmiger Kampf folgte. Sie waren sich beide ebenbürdig und ihr Kampf dauerte bis zur Morgendämmerung. Mit dem ersten Licht hörten sie auf zu kämpfen und trennten sich, beide erschöpft und verwundet. Sie pausierten für eine lange Zeit und als der Ritter nach dem Löwen schaute, stellte er fest, daß er diese Kreatur mehr bewunderte als fürchtete. Da machte der Löwe etwas überraschendes: Er legte sich schutzlos zu Bartholomews Füßen und streckte eine Pfote in Freundschaft aus. Ab diesem Tag waren der Ritter und der Löwe unzertrennlich. Bartholomew wurde bald als der Ritter des Löwen bekannt und sein Ruhm und der seiner Lady breitete sich weiter aus.

Von Zeit zu Zeit besuchte der Ritter des Löwen die Weiße Lady auf seinen Reisen, um ihr von seinen Abenteuern zu berichten. Eine große Liebe wuchs zwischen ihnen, aber es war nicht von solcher Natur, daß sie bei ihrem Ehemann Eifersucht hervorrief. Das Einhorn war noch immer in ihrem Garten und entschuldigte ihre Liebe.

Als Bartholomew eines Tages wieder einmal ihr Schloß erreichte, wurde er am Tor von einem Gutsherrn, gekleidet in einer schwarzen Tracht und einem Uniformrock bestickt mit einem goldenen Löwen, gestopt. "Herr, sie können nicht hinein," sagte er, "dieser Ort ist in Trauer." "In Trauer für wen?" fragte der Ritter überrascht, denn er hatte keine Anzeichen für ein solches Unglück bei seinem letzten Besuch bemerkt. "Der Grund ist die Weiße Lady, Herr. Sie hat uns gerade gestern verlassen. Eine plötzliche Krankheit. Alle sind voller Kummer und können niemanden empfangen." Die Welt des Ritters schien zu zerbrechen, dort draußen, auf der Zugbrücke und alles was er im Namen der Lady vollbracht hatte schmeckte plötzlich wie Asche. In einem Anfall von Wut und Kummer warf er seine Waffen und seine Rüstung in den Burggragen und rannte wie gehetzt in den nahen Wald. Dort wandelte sich sein Kummer für eine Weile in Tobsucht und stolperte ziellos umher, wie ein blindes und primitives Tier.

Zurück beim Schloß verließ der Bote in Schwarz das Tor und suchte die Weiße Lady auf, deren Gesundheit und Lebensgeister niemals besser gewesen waren, wohl auch durch das hoffnungsvolle Warten auf ihren ersten Ritter. "Lady," sagte er, "Ich habe schlechte Neuigkeiten für Euch vom Ritter des Löwen." Durch das Wappen auf dem Uniformrock getäuscht, glaubte sie ihm. "Was für Neuigkeiten?" fragte sie. "Lady, er ist tot," erwiederte der Bote. "Gerade erst gestern, in den nahen Wäldern, wurde er auf dem Weg zu einem Besuch bei Euch getötet, aufgegriffen von zwölf Gesetzlosen. Beide, er und sein Tier wurden erschlagen und ihre Köpfe als Trophäen mitgenommen." Die Weiße Lady viel in Ohnmacht vor Kummer.

Der Mann in Schwarz war ein verbrecherischer Ritter, der die Weiße Lady schon lange aus der ferne begehrte und während sie besinnungslos dalag, packte er sie und band sie in einen Sack. Aus dem Schloß geschlüpft trug er sie auf dem Rücken seines Pferdes zu seinem Schloß. Dessen Standort war sicher gewählt, zwischen Bergen mit starken Abhängen auf drei Seiten, während die vierte Seite von einem Drachen geschützt wurde. Dort angekommen sperrte er die Lady in eine Turm und der Ritter drohte, sie nicht zu befreien, bis sie zustimmte seine Gemahlin zu werden. Eingesperrt in dem Turm und abgeschlossen von allem, das ihrem Leben einen Sinn gab fiel sie alsbald in tiefe Depressionen.

Zwischenzeitlich wurde der Ritter von seinem treuen Löwen, der ihn immer begleitete, vor den übelsten Ausschreitungen seiner Qual beschützt bis ein gewisser Grad der Vernunft zurückkehrte. Während er sich erholte, hörte der Ritter von einem vorbeiziehenden Fremden, daß seine Herrin noch am Leben war und all seine vorherige Kraft und Zuversicht kamen zurück. Auf dem Rücken des Löwen reitend, eilte er direkt zum Schloß der Weißen Lady, um sich selbst als Pfand für ihre Rettung zu bieten. Dort fand er ihren Ehemann und seine Ritter, die von einem heldenhaften Versuch das Schloß des verbrecherischen Ritters zu stürmen heimkehrten. Sie waren schwer geschlagen und versorgten ihre grauenvollen Wunden, verursacht durch den furchtbaren Drachen. Doch trotz ihrer schweren Krankheiten waren sie dabei einen zweiten Sturmversuch auf das Schloß zu wagen. Der Ritter des Löwen jedoch bewaffnete sich und zog mit seinem Tier allein in die Berge.

Das Schloß des verbrecherischen Ritters, obwohl nicht groß, erschien dem Ritter des Löwen unbezwinglich, als er es erreichte. Doch bevor er überhaupt daran denken konnte das Schloß zu betreten, mußte er den Drachen besiegen, der scheinbar schlafend am Tor des Schloßes ruhte. Der Ritter hob sowohl Lanze als auch Schild und setzte hierzu an. Schlafenden Drachen aber darf man nicht trauen und dieser war keine Ausnahme. Faul öffnete er seine goldenen Augen, öffnete sein Maul wie zum Gähnen und begegnete dem Angriff mit einer Flammenbrunst. Die grausame Hitze röstete den Ritter in seiner Rüstung nicht nur nahezu, sondern war ihn und den Löwen zurück an den Rande des Abgrunds. Mutig rappelten sie sich wieder auf, stinkend nach verbrannten Fleisch und Fell und griffen erneut an, nur um wieder zurückgeworfen zu werden wie bevor. Sie versuchten es ein drittes Mal aber konnten noch immer nicht nahe genug an den Drachen heran, um die Lanze einzusetzen.

Als der Ritter und der Löwe sich ein drittes Mal erhoben wußten sie, daß sie verloren hatten, aber der Stolz verbat ihnen geschlagen zurückzukehren. Während sie sich zurückzogen hörten sie plötzlich eine Bewegung auf einem Pfad unterhalb. Durch den beißenden Rauch hinauf, die verbrannten Berge überwinden und leuchtend wie der Mond inmitten von Dunkelheit, kam das Einhorn der Lady. Ein wildes Licht glomm in seinen Augen, als es vorbeizog und sowohl Ritter als auch Löwe gingen still in Deckung und ließen es ziehen. Es lief hinauf bis zu einem nackten, felsigen Pfad in direkter Konfrontation mit dem Drachen, dann stellte es sich aufsässig auf seine Hinterbeine und äußerte einen markerschütternden Schrei. Der Drache antwortete mit einem feurigen Fauchen und das Einhorn glühte erst rot dann pink inmitten dieses Sturzbaches aus Flammen. Aber es wurde weder von seinem Füßen geworfen noch wurde es geröstet und als die Flammen erstarben senkte es sein Horn und griff an.

Alamiert rappelte sich der Drache auf und versuchte seine gigantischen Flügel zu spreizen, doch sie verfingen sich im Torhaus über ihm. So attackierte das grausame Biest mit ausgestreckten Armen, seine flammenden Klauen bereit, den weißen, anmutigen Nacken zu zerschmettern. Funken stoben unter den Füßen des Einhorns und wurden von der Luft wie Blitze weitergetragen. Es streiften an den brennenden Klauen und teuflischen Fängen vorbei und stieß sein Horn Mitten in das wütende Herz des Drachen. Der Drache fiel tot zu Boden, noch immer bei dem Versuch, das Einhorn zu zerschmettern, wie es ihm geschehen war. Nach diesem Schauspiel kam der Ritter aus seinem Versteck hervor und gemeinsam betraten sie das Schloß. Das Horn des Einhorns leuchtete in dunklem Purpur und reinigte sich selbst von dem Blut des Drachen.

Jedermann im Schloß flüchtete vor ihnen und als der verbrecherische Ritte bemerkte, daß seine Verteidigung durchbrochen war und er gegen die Angreifer machtlos war, war er so voller Wut, daß er tot umfiel. So wurde die Weiße Lady befreit und sie ritt auf ihrem geliebten Einhorn mit dem Ritter und den Löwen an ihrer Seite heim zu ihrem Schloß. Dort gab es große Feiern zu ihrer Wiederkehr und ihr Ehemann war überglücklich sie zu sehen. Der Ritter aber und sein Löwe wurden als Helden gepriesen königlich belohnt, bevor sie ihre Reise fortsetzten.

Aus "The Book of the Unicorns" von Nigel Suckling
frei ins Deutsche von Deliah

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