Eine Frage der Wahrnehmung

Zwei Mädchen liefen einen Fluss entlang.

Wieder hatte Gabrielle, die jüngere der beiden, das Gefühl, etwas Grünliches im Wasser gesehen zu haben. Es war ein heißer Sommertag und das Sonnenlicht tanzte auf ihrem blonden Haar. sie zuckte die Schultern, hüpfte fröhlich den Weg entlang und pfiff.

Idhre Mutter hatte die beiden zum See geschickt, damit sie Wasser holten. Dass Gabrielle Marie ihren Eimer in die Hand gedrückt hatte, machte diese nicht gerade fröhlicher. Manchmal hätte sie Gabrielle wirklich gerne etwas angetan; täglich musste sie sich deren nicht sehr unterhaltsame verbale Ausschweifungen anhören. Außerdem wurde Gabrielle immer hübscher, was nicht gerade zur Minderung ihrer Einbildung beitrug.

"Schau mal!", rief Gabrielle auf einmal und zeigte auf ein Rehkitz, dessen Kopf aus dem Wald lugte.

"Toll", sagte Marie und verdrehte dabei die Augen, "Davon kann ich mir ja was kaufen. Wir haben jetzt keine Zeit. Es ist schon fast Mittag."

Gabrielles Schmollmund verzog sich. "Du bist so langweilig. Du hast nie Zeit, um Spaß zu haben!"

"Was hat denn bitte ein Reh mit Spaß zu tun?", fragte Marie.

"Überhaupt nichts. Es geht um's Prinzip."

"Due weißt doch nicht einmal, was das bedeutet!"

"Und du bist blöd, doof und total gemein!"

"Wenigstens hefle ich im Hausthalt.", entgegnete die Beschumpfene und versuchte dabei, so unbeteiligt wie möglich zu klingen.

Die blauen Augen der Jüngeren verengten sich vor Wut. Sie machte keine Anstalten, weiterzulaufen, und als Marie vor ihrer Nase stand und verlangte, dass sie ihr aus dem Weg ginge, sagte sie: "Gib' mir zuerst meinen Eimer."

"Nein."

"Gib' mir sofort meinen Eimer!"

"Hol' ihn dir doch."

Marie machte zwei Schritte rückwärts, als Gabrielle nach einem der Eimer griff. Die Situation artete aus und endete schließlich damit, dass die Mädchen auf dem Boden lagen und das Wasser verschüttet war.

"Das ist alles deine Schuld, du... "

Gabrielle verstummte schlagartig und war damit beschäftigt, entsetzt die schleimige, grünliche Haut zu betrachten, die langsam über der Wasseroberfläche auftauchte.

"Was ist denn, Gabrielle?", fragte ihre Schwester und folgte ihrem Blick. "Oh, wie schön!", rief sie dann.

Gabrielle schenkte Marie einen noch geschockteren Gesichtsausdruck als dem vierbeinigen gelbäugigen Tier, das sich langsam auf das Ufer zu bewegte. War die Gute jetzt vollkommen übergeschnappt?

Marie konnte Gabrielles Miene nicht ganz deuten. Es war ihr aber im Moment ziemlich egal, denn sie hatte nur noch Augen für das schneeweiße, wunderschöne Einhorn, das sich auf sie zubewegte.

Gabrielle sprang gehetzt auf und packte Marie am Ärmel. Dieses Ding war schon fast bei ihnen. Marie streckte ihre gebräunte Arme nach dem schönen Tier aus. Sie hatte schon viele Geschichten über diese Wesen gehört, darunter auch, dass sie sich nur denen zeigten, die ein reines Herz hatten.

Sie streichelte seine feuchten weichen Nüstern. Kühl und doch so perfekt.

Gabrielle schrie, als sie sah, wie die Berührung des Seemonsters die Arme ihrer Schwester mit einem giftgrünen Schleim benetzte.

Das Einhorn regte den Kopf und betrachtete Gabrielle eingehend. Deren Kehle war vom Kreischen trocken wie Papier und ihr Mund stand entsetzt offen. Plötzlich drehte sie sich um und lief so schnell sie konnte weg.

Marie war vollkommen perplex. Sie schaute auf die rollenden Eimer, über die Gabrielle beim Rennen fast gestolpert wäre, dann wandte sie sich wieder dem Einhorn zu, das die Mundwinkel zurückgezogen hatte, als wollte es lachen.

©Melody Tennessee - @

Zurück

©Deliah 1998-2003 - Impressum
http://www.deliah.com