Zweiter Einhorn-Gesang

Wir trugen durch endlose Räume
Das Kreuz, drin die irdische Gier
Erlischt, doch im Dunkel der Träume
Stand weiß und unzähmbar das Tier.
Und keiner, der sagt, was es sinne,
Und keiner, der weiß, ob es sei,
Doch wenn wir uns grüßten in Minne,
War immer das Einhorn dabei.

Wo Stirnen sich schmückten mit Speeren,
Frau Venus mit blühendem Reis
Uns rührte, das Holde vom Hehren
Sanft schied, und wir schritten in Weiß,
Wo Küsse den Büßer entsühnen,
In Wäldern, wo ewiger Mai
Die Minner beglückte, die kühnen,
War immer das Einhorn dabei.

Horn Oberons, Hörner der Brüste,
Horn Thors, draus verdunkelt das Blut
Des Delphins von goldener Kueste
Verströmt in die salzige Flut,
Horn Rolands, Gepränge der Recken,
Horn Klingsors, aus berstendem Ei -
Wo Stämme stehn, Schäfte sich strecken,
War immer das Einhorn dabei.

Wo Schlangen die Häupter erheben
In Säumen von seidener Haut,
Der Purpur aus Ranken und Reben
In Trauben, belaubten, sich staut,
Wo Quester-Adepten im Schatten
Dem Gralshüter, daß er sie weih,
Sich neigten zu frommem Begatten,
War immer das Einhorn dabei.

Sein Bild blich im Grün der Gefilde:
Gibt Winter die Treibenden frei,
Fügt keiner die Splitter zum Bilde,
Trägt keiner den Speer, der ihn frei.
Doch wenn, wie von göttlicher Gilde
Zur Hochzeit entboten, wir zwei
Uns finden im Spiegel der Schilde,
War immer das Einhorn dabei

©Rolf Schilling

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